Die Glaubenslehre der Anatolischen Aleviten
Die Glaubenslehre der Anatolischen Aleviten
Die Träger der Tradition
Jeder Versuch, die Glaubenslehre der anatolischen Aleviten zu beschreiben, bleibt notgedrungen unvollständig und vorläufig. Dieser Umstand hängt mit zwei wesentlichen Merkmalen des Alevitentums zusammen: Mit seinem Geheimcharakter und mit der mündlichen Art der Vermittlung von religiösen Traditionen. Jahrhundertelang hielten die Aleviten Lehren und Praktiken vor Außenstehenden geheim. Nur jene Frauen und Männer, die in die Gemeinschaft hineingeboren wurden, konnten in den Besitz des religiösen Wissens gelangen. Als Medium für die Übermittlung religiöser Traditionen dienten Lieder (Nefes), die während der religiösen Zeremonien zur Lautenmusik vorgetragen wurden. Naturgemäß unterliegen jedoch mündlich vorgetragene Texte von Zeit zu Zeit Veränderungen. Dabei werden auch bereits verblaßte Glaubensvorstellungen in den Liedern weitertradiert, wobei sich ihre ursprüngliche Bedeutung den Zuhörern oft nicht mehr erschließt. Es ist daher nicht in jedem Fall mehr zu entscheiden, in wie weit bestimmte Glaubensvorstellungen, die in den religiösen Dichtungen festgehalten werden, noch allgemeine Gültigkeit besitzen.
Die fehlende schriftliche Fixierung der Glaubenslehre führte mit der Zeit zur Herausbildung verschiedener religiöser Traditionen im Alevitentum. Verstärkt wurde diese Tendenz zur Heterogenität durch das Wählen einer religiösen Zentralinstanz. Das Monopol der Vermittlung und der Auslegung der Lehre lag im Alevitentum in den Händen von Geistlichen (Dede bzw. Pir), deren Autorität auf ihre vermeintliche Abstammung aus dem Geschlecht des Propheten Mohammed gründete. Die heiligen Familien bildeten eine erbliche klerikale Führungsschicht, der die große Masse der einfachen Gläubigen (Talip) gegenüberstand. Die Dede waren es, die die religiösen Zeremonien durchführten, in deren Rahmen die Talip in die Geheimlehre eingeweiht wurden. Das dabei begründete Verhältnis zwischen Dede und Talip galt als analog zu einer Vater-Kind-Beziehung und diente als Begründung des Verbots von Heiratsbeziehungen zwischen den beiden Gruppen.
Die Aleviten erkennen die Nachkommen des größten Heiligen, Hünkar Bektas Veli, als oberste religiöse Autoritäten. Diese waren – zumindest theoretische – für die Bestätigung der Dede in ihren Ämtern wie auch für deren religiöse Unterweisung und Kontrolle zuständig.
In der Praxis jedoch tendierten die einzelnen heiligen Familien dazu, sich zu verselbständigen, was in deren jeweiligen Einflußbereichen zur Herausbildung verschiedener Traditionsstränge, sowohl auf dem Gebiet der Lehre, als auch des Rituals, führte.
Wenigstens für das 20. Jahrhundert läßt sich sagen, daß die Funktion der "Kinder der Lende" ("Hünkar Bektas Veli") als oberste religiöse Kontrollinstanz einen eher symbolischen Charakter besaß. Die häufig unterschiedlichen Interpretationen der Lehre, wie auch die von Region zu Region variierenden Formen der religiösen Zeremonien werden von den Aleviten jedoch nicht als Makel begriffen. Denn, wie ein vielzitierter Satz besagt: "Yol bir, sürek binbir.", d.h. einzeln ist der Weg, aber tausend und eine die Arten, darauf zu wandeln.
Zusammenbruch und Neubeginn
Gemeinschaften, die um charismatische Heilige zentriert sind und deren Kulturtraditionen mündlich übermittelt werden, sind jedoch nur in überschaubaren nichturbanen sozialen Zusammenhängen lebensfähig. Als die Aleviten, die jahrhundertelang in der relativen Isolation in ihren schwer zugänglichen Wohngebieten verharrten, von der allgemeinen Modernisierung des Landes ergriffen wurden, kam es folgerichtig zu einem Zusammenbruch der alten Ordnung.
Mit der gegen Mitte der 50er Jahre begonnenen Einwanderung in die Städte zerfielen aber nicht nur die alten sozial-religiösen Strukturen: Parallel hierzu erfolgte eine Säkularisierung und Politisierung des Alevitentums, die einen Bedeutungsverlust der Religion insgesamt mit sich brachten. Die verbale Wissensvermittlung wurde unterbrochen und die traditionelle religiöse Wissensvermittlung wurde unterbrochen und die traditionelle religiöse Führungsschicht hat ihre einstige Autorität eingebüßt. So sind mittlerweile zwei Generationen herangewachsen, deren Mitglieder in die geheime Lehre nicht mehr initiiert wurden und die nur über bruchstückhaftes Wissen um die Glaubensinhalte des Alevitentums verfügen.
In der gegenwärtigen Erneuerungsphase wird daher die Rekonstruktion der religiösen Traditionen zur zentralen Aufgabe. Da hierbei nicht schriftlich fixierte Dogmen zurückgegriffen werden kann, ist ein breiter Raum für Interpretationen gegeben. Die fehlende Kodifizierung der Lehre bedeutet aber einen nicht zu unterschätzenden Vorteil für das Alevitentum.
Ohne den Hemmschuh einer Heiligen Schrift, die ein für allemal festgelegt ist, kann es sich leichter an veränderte Bedingungen anpassen; ein Umstand, der Religionen mit Schrifttradition ungleich schwerer fällt.
Der alevitische Pfad des Glaubens
Das alevitisch religiöse System läßt sich als Synkretismus charakterisieren, d.h. es weist ein Nebeneinander verschiedener religiöser Traditionen auf, in dem die einzelnen Bestandteile nicht zu einem einheitlichen, neuen Ganzen zusammengeschmolzen sind. Es ließe sich mit einem Mosaikgemälde vergleichen, bei dem das Gesamtbild sich aus zahlreichen, in sich geschlossenen und thematisch häufig unabhängigen Einzelbildern ergibt.
Unter einer islamischen Oberfläche lassen sich dabei vor allem gnostische und mystische religiöse Traditionen, Anklänge an den Zoroastrismus, den Manichäismus und an christliche Sekten wie die Bogomilen wiederfinden. Im Bereich des Kultes sind zudem deutliche Spuren vorislamischer, alttürkischer und altiranischer Kulturen im Alevitentum lebendig geblieben.
Alevi bedeutet dem Wortsinn gemäß "Anhänger Alis", d.i. Neffe und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. In der Verehrung Alis deutet sich eine Nähe zur Schia an, mit der die Aleviten auch die Lehre von der Unfehlbarkeit und Sündlosigkeit der Imame, d.h. Ali und seinen Nachfolgern in der hüseynidischen Linie, teilen. Mit den Schiiten verbindet die Aleviten weiter dieTrauer um das Martyrium von Alis Sohn Hüseyin bei Kerbela und das Prinzip von tebbera und tevella, d.h. die Liebe zu den Freunden Alis und Haß auf seine Widersacher.
Aber hier enden auch schon die Gemeinsamkeiten; die Aleviten befolgen weder Theologie noch Gesetz der Schia oder irgendeiner anderen islamischen Schule. Das Nichtbefolgen der religiösen Gesetze und der islamischen Pflichtenlehre (die rituellen Gebete, das Fasten im Monat Ramadan und die Wallfahrt nach Mekka) ist ein Charakteristikum des Alevitentums. Es steht damit in der Tradition der sog. Batiniya, eine frühe Richtung innerhalb des Islam, nach deren Lehre jeder göttlichen Offenbarung eine innere, esoterische und eine äußere, exoterische Bedeutung zurückliegt.
Die innere, verborgene Wahrheit wird nur den Eingeweihten zuteil; sie wird als geheime Lehre insbesondere Initiationsriten offenbart. Für jene, die zu dem Verborgenen durchgedrungen sind, haben formale Gesetze, die der äußeren Späre angehören, keine Bedeutung mehr. In diesem Sinne nehmen die Aleviten auch eine spirituelle Interpretation des Koran vor. Die verborgene Wahrheit, um die es hier geht, ist die Einheit allem Seienden, vahdet-i-vücüt. Diese Lehre ist in dem Satz enthalten: Nur wer Gott im Menschen und den Menschen in Gott erblickt, weiß um die absolute Wahrheit (Hakikat kardesi odur ki, hakki insanda, insani hakkta gören).
Im Gegensatz zur islamischen Theologie kennt das Alevitentum daher keine Trennung zwischen Gott und einer von ihm erschaffenen Welt. Das Universum ist hier die Ausstrahlung der göttlichen Substanz selbst. In diesem Sinne kennt die alevitische Lehre streng genommen keinen Schöpfergott, was manche seiner modernen Interpreten veranlaßt, das Alevitentum per se als atheistisch zu definieren. Dies verkennt jedoch die ursprüngliche metaphysische Dimension des alevitischen Menschen- und Weltverständnisses.
Im Alevitentum wird der Mensch als ein Wesen begriffen, das das Potential des Göttlichen in sich trägt.
Im Alevitentum wird der Mensch als ein Wesen begriffen, das das Potential des Göttlichen in sich trägt. Seine Erlösung ist mit der Erkenntnis dieses Potentials verbunden; das Ziel, wohin die tausend und eine alevitischen Pfade führen, ist das Erlangen dieser Erkenntnis, marifet. Wer zur Erkenntnis (Gnosis) gelangt, gelangt zu Gott und damit zu sich selbst.
Gotteserkenntnis ist daher untrennbar mit Selbsterkenntnis verbunden. Mit den Worten eines alevitischen nefes ausgedrückt: Wer sein selbst nicht kennt, kennt Gott nicht (kendi özünü bilmeyen, hakki da bilmez), Der Weg zur Erkenntnis ist indes ein mühsamer. Er ist wie eine Brücke heißt es, schmaler als ein Haar, und sich auf ihn zu begeben gleicht dem Tragen eines Hemdes aus Feuer. Für den, der ihn betreten hat, gibt es kein Umkehr. Der Sucher (talip) muß vier aufeinanderfolgenden Stufen erklimmen, die jeweils mit steigender Vervollkomnung verbunden sind. Mit dem Betreten der letzten Stufe, die der Erkenntnis, ist das Ziel erreicht: Er (oder sie) wird zum insan-i-kamil, zum vollkommenen Menschen.
Die religiöse Identität der Aleviten verdichtet sich in der Formel eline, diline, beline,sahip olanlar, d.h. jene, die Herr ihrer Hände, Zunge und Lende sind. Die Beherrschung der Hände beinhaltet die Forderung, die Hände nicht nach Dingen auszustrecken, die einem nicht gehören. Der Zunge Herr zu sein, bezieht sich in erster Linie auf die Wahrung des Geheimnisses vor Außenstehenden. Weiter impliziert die Beherrschung der Zunge die Meidung von Lügen, Verleumdung und übler Nachrede. Die Beherrschung der Lende schließlich beinhaltet das Gebot, sexuelle Handlungen auf monogame Ehe zu beschränken.
Die traditionellen religiösen Zeremonien (ayni-i cem) der Aleviten, wenige Male nur im Jahr abgehalten, waren symbolischer Ausdruck der Lehre der Einheit alles Seiendem. Damit die cem, bezeichnenderweise auch birlik (Einheit) genannt, abgehalten werden konnten, mußte die Eintracht unter den Gläubigen gewährleistet sein. Streitigkeiten mußten gelöst, Schuldige, die gegen das Prinzip eline, diline, beline, verstoßen hatten, gegebenenfalls aus der Gemeinschaft entfernt werden. Für die Zeit der Andacht, die die ganze Nacht hindurch dauerte, waren alle Unterschiede, die die Gläubigen im sozialen Alltag voneinander trennten, gelöscht. "Wenn cem ist", heißt es, "gibt es keine Großen und Kleinen, keinen Schönen und Häßlichen, keine Männer und Frauen-sie alle sind Eins". Folgerichtig kennt das Alevitentum auch keine Lehre, die sich auf die Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau bezieht.
In der "Zeremonie der Befragung" sollten die Menschen lernen, "vor ihrem Tod zu sterben." Dieses Streben vor dem Tod bedeutet im Alevitentum, die Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts. Wer auf dem alevitischen Pfad wandelt, heißt es, soll im "Hier und Jetzt" Rechenschaft ablegen über seine Taten und dafür von der Gemeinschaft der Gläubigen beurteilt werden. Daß der Mensch sich in diesem irdischen Leben bewähren und sein Lohn und seine Bestrafung nicht im Jenseits erwarten soll, findet ihren poetischen Ausdruck in zahlreichen religiösen Hymnen:
Bir hatil yapmasi yüz bin hac olur...
Eine gute Tat wiegt hunderttausend Pilgerfahrten auf..
Kimi sevap icin kabeye varir Kabe kapinizda, bilmez misiniz ;
Ihr, die ihr für Gottes Lohn zur Kaaba Pilgert, Wißt ihr nicht, die Kaaba ist vor eurer Tür ?
Wie aber fügt sich die Verehrung Ali's in diesen mystisch-gnostisch beeinflußten Vorstellungskomplex ? Die Aussagen der religiösen Dichtung und einiger nur bruchstückhaft vorhandener, zudem stark verschlüsselter Schriften, der sogenannte Buyruk, ergeben ein äußerst vielgestaltiges Ali-Bild, so daß wir davon ausgehen können, daß hier verschiedene, möglicherweise regional abweichende Traditionen existieren.
Auf der einen Seite tritt uns ein Ali entgegen, der "mit Gott Gott ist"( Hak ile Hak olan Ali'dir). In den religiösen Liedern finden sich häufig Sätze, die die Vorstellung von der Gottgleichheit Alis deutlich belegen, wie z.B.: Su dünyanin evvelsin, ahiri ... ( Du bist Anfang und Ende dieser Welt ... ) Kismet verip alemleri yaradan..( Der das Schicksal bestimmt, der die Welt erschuf..) oder Bir ismi Alidir, Wir isimi Allah.. (Der eine Name ist Ali der andere Allah ... ).
Obwohl Mohammed niemals in derselben Weise gedacht wird, mit Ali zusammen erscheint er ebenfalls als Teilhaber an der Göttlichkeit. Ist Ali von Gott nicht zu trennen, so auch Mohammed nicht von Ali. Bezeichnenderweise benennen die Aleviten ihren Glauben als "der Pfad von Mohammed Ali". Ali und Mohammed gelten in der Glaubenswelt der Aleviten als vor der Ewigkeit existierende Lichtsubstanzen, die aus einer Zweiteilung Gottes hervorgegangen sind.
Hierauf gründet die typisch alevitische Lehre der Trinität: Hak Mohammed Ali, drei Namen, in der Bedeutung eins. Die historischen Personen Ali und Mohammed verkörpern als materielle Manifestationen des ewigen göttlichen Lichtes die zwei Dimensionen der Offenbarung: Ali steht für die innere, verborgene Wahrheit, während Mohammed deren äußere Seite repräsentiert. Hierin liegt die Vorrangstellung begründet, die Ali in der Glaubenswelt der Aleviten gegenüber Mohammed zweifellos zukommt.
Die zwölf Imame, Nachfahren Alis aus der Verbindung mit Mohammeds Tochter Fatima, gelten ebenfalls als Träger des göttlichen Lichts. Die Heiligen Männer gelten als die späten Erben des geheimen Wissens, das sie von Generation zu Generation an ihre Söhne weitergegeben haben.
Schlußbetrachtung
Die Antworten, die heute auf die Frage nach dem Wissen des Alevitentums gegeben werden, fallen vielfältig aus, je nach dem, welche der vorhandenen Traditonsstränge betont bzw. in den Hintergrund gedrängt werden. In der gegenwärtigen Phase der Erneuerung sind verschiedene miteinander konkurrierende Deutungen auszumachen. Die eine Richtung ist bestrebt, das gnostisch-mystische Erbe des Alevitentums zu beleben. Eine andere Richtung dagegen versucht, das Alevitentum durch die Zurückdrängung seiner batinistischen Traditionen dem orthodoxen Islam näherzubringen.
Jene Kreise, die das Alevitentum außerhalb des Islam ansiedeln möchten, betonen die trennenden Elemente, die anderen die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden. Ein großer Teil der politisierten jüngeren Generation wiederum sieht das Alevitentum eher als eine soziale Bewegung, als eine Lebensform und als solche weitgehend außerhalb religiöser Kategorien stehend.
Welche Modelle sich schließlich durchsetzen werden, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall aber wird durch die selektive Belebung der Traditionen und deren Neuinterpretation ein Alevitentum im neuen Gewand entstehen, das den Bedingungen der Gegenwart Rechnung trägt. Die Aussage, die Hünkar Bektas Veli zugeschrieben wird, könnte daher als Pate über die alevitische Erneuerungsbewegung stehen: "Es ist der Mensch, der sich der Zeit anpassen muß und nicht umgekehrt" (Asirin insana degil, insanin asira uymasi gerek.).