Schiiten, Sunniten und Aleviten
Welche Praktiken und Riten unterscheiden Schiiten und Sunniten von Aleviten?
Der auffälligste Unterschied zwischen Sunniten, Schiiten und Aleviten liegt in der Form des kollektiven Gebets. Aleviten gehen grundsätzlich nicht in die Moschee, um dort ihre Gebete zu verrichten. Der Grund hierfür liegt vordergründig darin, dass Aleviten, Schiiten und Sunniten völlig unterschiedlich ihre Religiosität in der Gemeinschaft ausleben. Aleviten beten deswegen in „Cem“-Häusern, da sie anders beten, als in Moscheen gebetet wird.
Im Cem wird zunächst in der jeweiligen Muttersprache gebetet. Es wird darauf Wert gelegt, dass alle Beteiligten auch den Inhalt der Zeremonie verstehen.
Während in der Moschee jede Person für sich ihren Gottesdienst verrichtet, beten Aleviten in der Cem-Zeremoniegemeinsam. Daher ist auch das Einvernehmen in der Cem-Zeremonie (rızalık, s. Antwort von besonderer Wichtigkeit, da gemeinsam gebetet wird und dies im Streitfall nach alevitischem Verständnis nicht möglich ist.
Des Weiteren beten Aleviten nicht in eine besondere Richtung wie beispielsweise Richtung Mekka/Kaaba, sondern in Kreisform, von Angesicht zu Angesicht und schaffen so eine „Kaaba der Seelen (gönül kaabesi)“. Zudem ist im Cem der Semah, die 12-Dienste und die Dichtungen der Volksdichter, instrumentiert durch die Saz, nicht wegzudenken. In Moscheen ist dies alles nicht der Fall.
Ein weiterer Unterschied ist, dass das Kollektivgebet im Schiitentum und im Sunnitentum in dem Gebäude Moschee stattfinden muss. Im Alevitentum hingegen wird das Gebäude – egal ob es ein Konvent oder ein Wohnzimmer ist – durch das Kollektivgebet zum Cem-Haus.
Des Weiteren beten Männer und Frauen in Cem-Zeremonien zusammen und nicht getrennt wie in der Moschee. Aufgrund der recht vielseitigen Unterschiede in der Gebetsausführung, die stets auf die Unterschiede der Lehren zurückzuführen sind, haben Aleviten ein eigenes Gebetshaus. Das Argument, dass Ali in der Moschee (damals existierten nicht Moscheen, sondern Mescits) ermordet worden ist und Aleviten deswegen dort nicht beten, ist nicht haltbar.
Interessant ist es, die Etymologie des türkischen Begriffs für Moschee, Cami, mit dem Begriff Cem zu vergleichen. Beide Begriffe sind miteinander verwandt und drücken letzten Endes begrifflich dasselbe aus, nämlich das Versammeln.
Ein anderer Ritus, der Aleviten von Sunniten und Schiiten unterscheidet, ist die Einhaltung des rituellen Gebets. Laut dem Sunniten- und Schiitentum gehört es zu den fünf Säulen des Islams, dass jeder Muslim am Tag fünfmal ein rituelles, physisch vorgeschriebenes Gebet (namaz) halten muss. Aleviten interpretieren die Aufforderung zum Gebet anders. Nimmt man den Koran als Quelle dieses Gebots, wird schnell erkennbar, dass nicht ein rituelles Gebet wie der Namaz von Nöten ist, sondern lediglich die regelmäßige Gebetsausführung an sich. Dem Alevitentum zufolge ist das individuelle Gebet jedem Individuum selbst überlassen, ob es der Namaz ist oder ein, liegend im Bett, ausgesprochenes Gebet, Meditation etc.
Wichtig ist der Kern, das Innere und nicht das oberflächliche, physische. Das Argument, dass Ali und Mohammed in Moscheen (besser gesagt Mescits) das rituelle Gebet beteten und Aleviten deswegen dies auch tun müssten, wird Aleviten häufig vorgeworfen. Aber – Jesus war Jude und eine Institution wie die Kirche existierte zu dieser Zeit ebenfalls nicht. Demnach ist dieser Vergleich abzulehnen.
Des Weiteren fasten Aleviten nicht im islamischen Monat Ramadan, sondern im Monat Muharrem (s. Antwort 26). Der Grund hierfür liegt vor allem darin, dass sich im Laufe der Geschichte diese Abweichung entwickelt hat. Das Hızır-Fasten und das Muharrem-Fasten haben einen historischen und symbolischen Wert. Die Werte des Ramadan, wie die Selbstkontrolle und das Einfühlungsvermögen in hungernde Menschen, ist ebenfalls Zweck alevitischen Fastens. Jedoch ragt die Bedeutung des Hızır Fastens und das Muharrem-Fastens über dieses hinaus und beinhaltet starken historischen Bezug und Symbolik.
Almanya Alevi Gençler Birliği