Was bedeutet die Wahlverwandtschaft (Müsahiplik)?
Was bedeutet die Wahlverwandtschaft / Weggemeinschaft (Müsahiplik)?
„Müsahiplik" bedeutet soviel wie eine soziale Wahlverwandtschaft; d. h. die Beteiligten müssen nicht Blutsverwandte sein. Diese Wahlverwandtschaft entspricht der Weggemeinschaft. Die Cem-Zeremonien werden auf verschiedene Weise, z. B. als Initiationszeremonie (İkrar-Cem) oder als Verrichtung der 12 Dienste (Görgü-Cem) usw. durchgeführt, wobei manche Versammlungen (Birlik-Cem) offen für die ganze Gemeinde sind. Dabei spielt auch das Alter keine Rolle.
Der „Görgü-Cem" ist im Vergleich dazu von speziellerer Art. Er ist strenger und hat eine feste Ordnung, so dass Personen, die keinen „Wahlverwandten" (Musahip) haben, von der Teilnahme ausgeschlossen sind.
Die „Wahlverwandtschaft" beginnt damit, dass zunächst zwei Aleviten sich dahingehend entscheiden, den alevitischen Weg durch die Initiation (İkrar) und durch die Bindung an einen Lehrer (Mürşit) einzuschlagen. Hierzu ist es unerlässlich, sich einen Müsahip auszusuchen.
Die Wahlverwandtschaft muss dann auch von den jeweiligen Familien und bei ledigen Personen, später auch von den Ehepartnern genehmigt werden.
Die „Wahlverwandten" sollten hinsichtlich ihres Sozialstatus, Bildungsstandes und ihrer wirtschaftlichen Lage ähnlich sein. Bei der Wahlverwandtschaft spielen nämlich der Kodex der gegenseitigen Hilfe und die Solidarität eine wichtige Rolle zwischen den Beteiligten, die sich in allen Bereichen des sozialen Lebens gegenseitig unterstützen. Wenn eine der Wahlverwandten stirbt oder arbeitsunfähig wird, hat der Wahlverwandte die Pflicht, sich um deren Familie zu sorgen.
Eine Besonderheit der Wahlverwandtschaft ist, dass die Kinder dieser Familien nicht einander heiraten dürfen. Die Wahlverwandten helfen sich nicht nur, sondern können auch vom Besitz ihres Wahlverwandten Nutzen ziehen.
Die Wahlverwandten sind überdies gegenseitig für ihre Fehler mitverantwortlich, aber auch die Wohltaten des einen Wahlbruders kommen auch dem anderen Wahlbruder zu Gute. Es ist vom sozialen Standpunkt unverkennbar, wie wichtig eine solche Institution für gesellschaftliche Einheit, Toleranz und Frieden ist.
Es ist klar, dass solange Liebe und Toleranz an erster Stelle steht und ein hoher Grad der gegenseitigen Hilfeleistung vorliegt, eine solche Gesellschaft, sei es eine alevitische, sei es eine christliche Gesellschaft, in einer Eintracht lebt, die nicht ohne weiteres zerstört werden kann. Genau so klar ist es, dass solche Institutionen - sei es die Wahlverwandtschaft im Alevitentum, seien es andere Formen der Bruder- und Schwesternschaft -, die den zwischenmenschlichen Beziehungen Sicherheit geben, von großer Bedeutung sind: und zwar besonders in Verhältnissen, in denen die Menschen ihr Vertrauen verloren haben.
Die Institution der Wahlverwandtschaft beruht auf der Auswanderung (Hicra) des Propheten aus Mekka nach Medina. Diejenigen, die mit Mohammed auswanderten, nennt man „Auswanderer" (Mahacirin), während die in Medina ansässige Gefolgschaft „Helfer" (Ansar) genannt wird. Da nun die Unterkunft und Verpflegung den „Auswanderer" ein großes Problem bereiteten, stellte Mohammed jedem Auswanderer aus Mekka einen in Medina ansässigen Bruder bei. Auf diese Weise stärkte er die soziale Solidarität und fand eine Unterkunft für die Muslime aus Mekka.
Der wichtigste Grund dafür ist die Institution der „Blutsbrüderschaft"(Andalık), die ihren Ursprung bei den Turkmenen und Nomaden (Yörük) hat. Zwei Personen werden dabei zu „Blutsbrüdern" und nennen sich gegenseitig „Anda" (Blutsbruder). Sie nennen sich bis zu ihrem Tode „Weggenossen" (Yoldaş) und lassen es, wie Blutsverwandte nicht zu, dass ihre Kinder einander heiraten. Diese Institution verband sich mit den beschriebenen Vorfällen in Medina und existiert so in der Kultur des Alevitentums noch heute fort.
Es ist auch der Fall, dass Einzelkinder oder solche, deren Geschwister alle bei Gott eingegangen sind, sich auf ihrem Lebensweg einsam fühlen, so dass die Institution der Wahlverwandtschaft, bei der ja ein sehr enges geschwisterliches Verhältnis der Fall ist, ihnen helfen kann.
Im Alevitentum existiert auch die Legende, dass Ali und Mohammed Wahlbrüder gewesen seien. Bisher sieht es leider so aus, dass nur wenige Aleviten von sich behaupten können, einen Wahlbruder zu haben. Mittlerweile aber nimmt das Interesse der in Deutschland lebenden alevitischen Jugend an der Wahlbruderschaft zu, so dass man eine zunehmende Tendenz zum Abschluss der Wahlbruderschaften beobachtet.
Almanya Alevi Gençler Birliği