Worum handelt es sich bei der Cem-Zeremonie?
Worum handelt es sich bei der Cem-Zeremonie und der Institution des Dedes?
Die Cem-Zeremonie (auch Ayn-ı Cem genannt) ist das Kollektivgebet der Aleviten.
„Cem" bedeutet dem Wortsinn nach „Versammlung" bzw. „Zusammenkunft".
Es wird angenommen, dass diese Gemeindeversammlung, die im Alevitentum eine immens zentrale Rolle spielt, auf die „Versammlung der Vierzig" (Kırklar-Cemi) zurückgeht.
Dabei handelt es sich um folgende Überlieferung:
Mohammed kommt nach seiner Himmelsreise (Miraç) an eine Pforte, wo die so genannten „Vierzig", Männer und Frauen, in ihr Gespräch vertieft sind. Als er an die Tür pocht, fragt man:
„Wer bist Du?" Daraufhin antwortet er:„Ich bin der Prophet; öffnet die Tür und lasst mich hinein!"
Die Versammelten sagen daraufhin:„Unter uns hat ein Prophet keinen Platz. Übe Dein Prophetentum in Deiner Gemeinde aus." Daraufhin kehrt der Prophet um. Zwar nennt er nochmals seinen Namen und will hinein, aber er wird nicht eingelassen. Da hört der Prophet die Stimme Gottes:„O Mohammed; gehe an die Tür und nimm an der Versammlung teil!" Da geht der Prophet wieder zu der Pforte und pocht. Man fragt von drinnen:„Wer bist Du?" Diesmal antwortet der Prophet:„Ich bin ein Armer, einer wie Ihr und folge Euch." Da wird er eingelassen.
Bei den Versammlungen (Cem) der Aleviten nehmen sowohl Frauen als auch Männer teil.
Man spricht in der Zeremonie nicht von Frauen oder Männern, Älteren oder Jüngeren, Reichen oder Armen sondern nur von Seelen (can). Meist veranstaltet man die Cem-Zeremonie in den Wintermonaten und zwar an Donnerstagabenden. Jeder Teilnehmer bringt etwas zu essen mit und trägt soviel bei, wie er kann. Es soll allerdings nicht ersichtlich sein, wer wie viel mitgebracht hat. Damit soll verhindert werden, dass die Menge des Beitrags zu einer Privilegierung von einzelnen Teilnehmern führt. Das Essen wird dann unter den Anwesenden am Ende der Zeremonie gleichmäßig aufgeteilt. Der alevitische Geistliche (Dede) setzt sich auf seinen Sitz, Männer und Frauen sitzen meist in Kreisform vermischt.
Ehe der Gottesdienst verrichtet werden darf, müssen jegliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Anwesenden geklärt werden und jede Person mit allen Anwesenden der Cem-Zeremonie einverstanden sein. Das Einvernehmen (rızalık) ist ein elementarer Bestandteil des Alevitentums. Selbst der Dede fragt die Gemeinschaft, ob sie damit einverstanden ist, dass er die Zeremonie leitet.
Danach beginnen die zwölf Bediensteten (s. Antwort 9) ihre Pflichten auszuüben.
Die Cem-Zeremonien können ihrem Anlass entsprechend klassifiziert werden. Es gibt folgende Hauptkategorien:
Der İkrar-Cem: Diese Versammlung wird einberufen, wenn eine Person sich dafür entschieden hat, den Weg des Alevitentums einzuschlagen, sich an einen Dede zu binden und eine/n Wahlschwester/-bruder (Müsahip s. Antwort 11) auszusuchen.
Der Görgü-Cem: Dies ist die wichtigste religiöse Zeremonie der anatolischen Aleviten. Bei dieser Versammlung werden die „12 Dienste" vollbracht. Die Seelen konfirmieren bei dieser Zeremonie nochmals ihr Gelöbnis, das sie bei ihrem ersten İkrar-Cem ausgesprochen haben. Zerstrittene werden miteinander versöhnt und die Verschuldeten müssen zuvor ihre Schulden abstatten. An diesem Cem dürfen nur jene teilnehmen, die ihr Gelöbnis abgegeben und eine/n Wahlschwester/-bruder haben.
An dem Birlik-Cem hingegen dürfen alle Interessenten, gleich ob Alevit, Sunnit oder Christ teilnehmen. In Deutschland findet diese Form der Cem-Zeremonie zurzeit am meisten statt.
Ein weiteres Merkmal der Cem-Zeremonie ist, dass die anwesenden Menschen befragt werden, ob ihnen innerhalb der Gesellschaft bzw. Gemeinschaft Unrecht zugefügt wurde. Falls jemand eine Beschwerde vorbringen möchte, so tritt dieser vor den Dede und schildert die Begebenheiten. Dies kann nur geschehen, wenn der „Beschuldigte" ebenfalls anwesend ist. Der Dede hört sich beide Parteien an und versucht, beide Seiten zu versöhnen. Falls es - aus welchen Gründen auch immer - zur keiner Versöhnung kommt, darf die Cem-Zeremonie nicht weitergeführt werden. Diese Instanz in der Cem-Zeremonie wird Dar-ı Mansur genannt.
Da die Cem-Zeremonie ein Kollektivgebet des Momentes ist, kann solch ein Gebet auch unabhängig von Räumlichkeiten stattfinden und ist nicht auf eine spezifische Gebetsstätte angewiesen, wie es bei Kirchen oder Moscheen der Fall ist.
Der erwähnte Dede dient als geistiger Lehrer oder Wegweiser (auch Pir oder Mürşit genannt) zur Vervollkommnung der Menschen. Ein Dede leitet auch die Cem-Zeremonien. Er nimmt in dem Leben des einzelnen Aleviten einen wichtigen Platz ein, nachdem der Alevit vor einem Dede sein Gelöbnis (İkrar) abgeleistet hat. Mit der Abgabe des Gelöbnisses, welches als Initiation[1] in das Alevitentum bezeichnet werden kann, wird der Alevit zu einer Art „Novize[2]" (Mürid, Talip). Dieser steht unter der geistigen Leitung eines Dedes. Der türkische Begriff „Dede" bedeutet wortwörtlich „Großvater". In dem religiösen Kontext soll dieser Begriff eher einen alten, weisen Mann beschreiben. Oft gilt das Alter als ein Symbol der Weisheit. Auf diese bezieht sich der Begriff Dede. Der persische Begriff Pir sagt nichts anderes aus.
Ein weiteres Merkmal eines Dedes ist, dass dieser unbedingt aus dem Stammbaum des Propheten Mohammed bzw. aus einem der 12 Imame (s. Antwort 15) abstammen muss. Ein zentrales Werk im Alevitentum, das „Imam Cafer Sadık Buyruk", betont dies an mehreren Stellen.
Die Blutsverwandtschaft zum Propheten ist jedoch nur die notwendige Bedingung, ein Dede zu werden und in keinem Maß hinreichend für eine geistige Führungspersönlichkeit. Der Dede muss sowohl im Alevitentum als auch in anderen Glaubenslehren bestens bewandert sein, aber auch ein ausgeprägtes soziales Empfinden haben. Er hat einen Wegbruder (Müsahip; s. Antwort 11), bildet seine Schüler (Talip) aus und begleitet diese auf dem geistigen Pfad der vier Pforten und vierzig Stufen. Dazu gehört, dass der Dede mindestens einmal im Jahr seine „Wegeskinder" (yol evlatları) besucht, nach deren Wohlbefinden fragt, und sie - sofern sie in der Gesellschaft kein Unrecht begangen haben - segnet.
Im Alevitentum können auch die Ehefrauen des Dedes, Ana (zu Deutsch: Mutter) genannt, die Funktion eines Wegweisers (Mürşits) übernehmen, sofern die erforderlichen Bedingungen (Bildung, Gesinnung, aus dem Geschlecht Mohammeds etc.) vorhanden sind.
Die Wichtigkeit eines Dede drückt der weltweit bekannte islamische Mystiker Celalleddin Mevlana Rumi folgendermaßen aus:
„Wer ohne Führer reist, braucht zweihundert Jahre für eine Reise von zwei Tagen."
Der Dede dient lediglich Wegweiser; den Weg jedoch muss jeder selber gehen.
[1] Initiation = Einführung eines Außenstehenden in eine Gruppe bzw. in eine Gemeinschaft
[2] Novize = Neuling
Almanya Alevi Gençler Birliği